„Moralisches Handeln ist kein Trend“


Eine literarische Entdeckung: Junge mit schwarzem Hahn

Stefanie vor Schulte im Büchergilde-Interview über die nie verlöschende Hoffnung auf einen guten Ausgang und warum sie ihren Protagonisten Martin schon vor dem ersten Lockdown gebraucht hat.

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Es geht um die Gefühle. Das Gefühl ist der Anker inmitten der von mir geschilderten Ereignisse.

Stefanie vor Schulte

Liebe Frau vor Schulte, wir freuen uns sehr, Sie und Ihren Roman Junge mit schwarzem Hahn im aktuellen Programm der Büchergilde begrüßen zu dürfen.

Sie greifen in Ihrem Buch viele bekannte und auch unbekanntere Märchenmotive auf – der Ton des Buchs, Ihr Schreibstil stehen dem Genre sehr nah. Woher rührt diese starke Verbindung zu Märchen?

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Es ist gar nicht speziell das Märchen, dem ich mich nahe fühle oder in dessen Nähe ich meinen Roman rücken wollte. Es geht um die Gefühle, die solche oder ähnliche Geschichten beim Lesen oder Zuhören einmal ausgelöst haben. Dieses Versinken in einer Geschichte, die nie verlöschende Hoffnung auf einen guten Ausgang. Die meisten kennen das eben aus der Kindheit, gekoppelt an Märchen oder märchenhafte Romane. Das Gefühl ist der Anker inmitten der von mir geschilderten Ereignisse. Es kann dem Leser ermöglichen, sich auf zum Teil herausfordernde Schilderungen einzulassen, in dem vagen Wissen, es möge alles gut ausgehen.

 

Martin, Ihr beeindruckender Protagonist, durchschreitet seine Geschichte voller Hoffnung und Mut. War die Idee für Martin und seinen Charakter bereits da und bei Ihnen, bevor sich die Ereignisse in der Welt durch die Pandemie zuspitzten? Oder hat sich diese Figur auch ein Stück weit aus der Mutlosigkeit heraus entwickelt, die sich während der letzten Zeit immer mehr zeigte?

Martin war schon vor der Pandemie da, und diese hat an ihm und seiner Geschichte auch nichts geändert. Die Pandemie hat doch eigentlich auch nur – im Guten wie im Bösen – gezeigt, was Menschen so tun. Was sie vorher getan haben. Was sie nachher tun werden. Eine gewisse Mutlosigkeit hinsichtlich der Verschleifung vieler Werte war schon lange da. Ich jedenfalls habe Martin schon vor dem ersten Lockdown gebraucht.

 

Trotz der schaurigen Umstände seiner Zeit und der vielen schrecklichen Ereignisse, die ihn und seine Mitmenschen herausfordern, hält Ihr Protagonist Martin beharrlich an seiner tief verankerten Hoffnung fest, verliert nie den Mut. Würden Sie sagen, dass Martin ein Vorbild sein kann? Und wie viel Martin steckt vielleicht sogar in uns allen?

Martin ist ein Held, wie vielleicht auf den ersten Blick nicht jeder einer sein möchte. Weinend, hilflos, ausgeliefert. Und dann wieder standhaft. Unerschütterlich. Sein Mut und seine Integrität sind ihm innere Notwendigkeit, und er zahlt dafür immer wieder einen hohen Preis. Ich befürchte, dass moralisches Handeln als Lebensantrieb heutzutage kaum ernst genommen wird. Wir sind abgelenkt. Wir brauchen viel. Horten viel. Selbst wenn wir uns reduzieren folgen wir dazu Idealvorstellungen, optimieren wir Schlichtheit, Einfachheit. Alles unterliegt Strömungen und Trends. Moralisches Handeln ist aber kein Trend. Insofern ist Martin natürlich kein Vorbild. Er ist nicht zum Nachahmen gedacht. Aber vielleicht berührt er und erinnert an ein Leben ohne Trends.

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Der schwarze Hahn ist Martins stetiger Begleiter. Für jede Leserin, jeden Leser, mag der schwarze Hahn eine andere Bedeutung haben: ein Freund und Beschützer, ein böses Omen, eine Metapher für die innersten Ängste. Was ist Ihr schwarzer Hahn?

Das darf ich nicht verraten, damit ihn mir keiner nimmt.

 

Sie sind studierte Bühnen- und Kostümbildnerin. Beeinflusst Ihr Studium heute Ihr Schreiben? Wie konkret formen sich die Bilder und Szenen, die Sie niederschreiben, in Ihrem Kopf?

Es gibt immer zuerst ein Gefühl. Zu diesem entwickelt sich ein Bild. Das ist schon sehr ähnlich wie die Arbeit an einem Bühnenbild. Man folgt der Interpretation, dem Gefühl und erschafft hierfür einen Raum. Beim Schreiben gehe ich ähnlich vor, nur folgt nicht der Raum, sondern das Wort. Erst das Gefühl, dann das Bild und an dem Bild schreibe ich entlang, bis alle Sätze da sind.

 

Ihr Debütroman Junge mit schwarzem Hahn ist sehr erfolgreich – Sie wurden für ihn zuletzt mit dem Mara-Cassens-Preis 2021 ausgezeichnet, wozu wir Ihnen herzlich gratulieren möchten. Können Sie uns verraten, ob Sie schon an einem neuen Buch arbeiten? Oder genießen Sie gerade erst einmal in Ruhe die (Lese-)Reise von Martin und seinem schwarzen Hahn? 

Ein zweites ist geschrieben. Ein drittes fängt an mich zu behausen. Ich bin wahnsinnig glücklich über die Entwicklungen rund um meinen ersten Roman. Ich freue mich über jeden Kommentar, jeden einzelnen Leser, den Preis, die Aufmerksamkeit. Es ist ein großes Glück. Aber Schreiben selbst macht eben noch glücklicher.

 

Vielen Dank für das Gespräch, liebe Frau vor Schulte!

 

Die Fragen stellten Sofia Wacker und Marie-Theres Stickel.

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Die Autorin

Stefanie vor Schulte

Stefanie vor Schulte, geboren 1974 in Hannover, ist studierte Bühnen- und Kostümbildnerin. Junge mit schwarzem Hahn ist ihr erster Roman. Sie lebt mit ihrer Familie in Marburg.

Kurz gefragt

Wie sieht ein typischer Arbeitstag bei Stefanie vor Schulte aus? 
Ein geregelter Alltag entfällt dank Pandemie. Das hier ist übrig: von 5 - 22 Uhr Kinder, Haushalt, Wahnsinn. Dazwischen, danach und auch davor hier und da ein Moment des Schreibens. Aber immer ans Schreiben denken.

Was darf an Ihrem Arbeitsplatz niemals fehlen? 
Papier und Stift. Da ich keinen festen Arbeitsplatz habe, trage ich es immer bei mir.

Wenn Sie mit Martin verreisen könnten – wohin würden Sie ihn mitnehmen? 
Ans Meer.

Verraten Sie uns Ihr Lieblingsmärchen? 
Die Schneekönigin (nicht zu verwechseln mit der Eiskönigin!).

Morgens, zum Aufwachen: Ein lautes KIKERIKI vom Hof nebenan – oder doch lieber der Handywecker? 
Weder noch. Ich habe kleine Kinder, die allmorgendlich verkünden: Fertig mit Schlafen! Ich dann auch.


Beeindruckende Romandebüts