Nebenfiguren der Diktatur
Autorin María José Ferrada im Büchergilde-Interview
Mit Kramp erschafft die chilenische Autorin María José Ferrada einen biografisch inspirierten Roadtrip im Chile der 1980er-Jahre. Durch die Augen einer Siebenjährigen erschließt sich die Geborgenheit eines ungewöhnlichen Vater-Tochter-Gespanns – inmitten der grausamen Realität einer Diktatur.
Frau Ferrada, bislang haben Sie mehr als 50 Kinderbücher verfasst. Was hat Sie zum Entschluss gebracht, mit Kramp einen Roman für Erwachsene vorzulegen?
Als ich Kramp zu schreiben begann, wollte ich einen Roman über den Beruf meines Vaters schreiben: Handelsvertreter. Vor allem deshalb, weil ich diesen Beruf verschwinden sah. Ab den 1990er-Jahren begannen sich in Chile die großen Supermarktketten, Baumärkte und Apotheken niederzulassen, die zentral einkauften. Die Verkäufer, die übers Land zogen und mit den Geschäftsinhabern sprachen wurden nicht mehr gebraucht. Mein Vater und seine Kollegen wurden nicht mehr gebraucht. Ich war ihnen etwas schuldig, denn in meiner Kindheit und Jugend begleitete ich meinen Vater auf seinen Reisen. Und ich saß mit den fahrenden Händlern in den Cafés und Bars an einem Tisch. Ich habe mit ihnen gelacht und gelernt, Geschichten zu erzählen. Denn eine gute Geschichte konnte gute Verkäufe für sie bedeuten.
Beim Schreiben habe ich nicht an das Alter möglicher Leserinnen und Leser gedacht, sondern daran, einen Roman für meinen Vater zu schreiben. Der Roman nahm seinen eigenen Ton an, und im Laufe des Buches bemerkte ich, dass der Ton etwas erwachsener war als bei meinen früheren Büchern, und ich beschloss, ihn so zu belassen.
Nun gibt es ein verbindendes Element zu Ihren Kinderbüchern, denn auch hier steht wieder ein Kind im Mittelpunkt, das uns als Erzählerin in der Rückschau seine Geschichte schildert. Wie schnell stand für Sie fest, dass es ausgerechnet ein Kind sein soll, aus dessen Sicht Sie von den Abenteuern der Handlungsreisenden und von der Zeit der Pinochet-Diktatur erzählen wollen? Und worin liegen die erzählerischen Vorteile der kindlichen Perspektive?
Am Anfang gab es einen neutralen Erzähler. Doch fast ohne mein Zutun übernahm die kindliche Protagonistin die Erzählung. Also habe ich noch mal von vorne begonnen und ganz bewusst ihre Stimme gewählt.
Es war auch nicht geplant, von der Diktatur zu erzählen. Aber der Roman hat keinen einheitlichen Handlungsstrang. Eine Geschichte führt zur nächsten. In diesem Fall ist die Diktatur nicht nur Kulisse, sondern eine Art stiller Orkan, der sich auf das Leben der Figuren auswirkt und es durcheinanderwirbelt. Eine Diktatur macht Dinge kaputt, macht Menschen kaputt, und es gibt die sichtbaren Auswirkungen: Ausgangssperren, Menschen, die verschwinden, Familien, die sie suchen; aber es gibt auch Auswirkungen, die in den späteren Berichten nicht auftauchen, die das tiefste Innere eines Ortes und seiner Bewohner betreffen. Etwas Unwiederbringliches.
Ein Mädchen, das die Welt entdeckt und logische Beziehungen zwischen den Dingen herstellen muss, bemerkt, dass etwas nicht so funktioniert, wie es sollte, dass in dem Mechanismus „Welt“ ein Teil kaputt ist. Und genau so sagt sie es, weil sie darin nichts Falsches oder Gefährliches sieht. Das ist der große Vorteil einer kindlichen Erzählstimme.
Es sind nur spezielle Personen, die von Ihnen in Kramp einen vollständigen Namen erhalten. Die Erzählerin heißt schlicht M, auch Menschen, denen sie begegnet, werden zumeist auf einen initialen Buchstaben reduziert. Warum haben Sie sich für diese anonyme Namensgebung entschieden?
Für meine Geschichte habe ich reale Personen als Vorbilder benutzt: die Freunde meines Vaters. Es war so eine Art running gag zwischen uns. Ich malte mir den Moment aus, in dem sie das Buch lesen und sagen würden: Aber das bin ja ich! Da gab es allerdings das Problem, dass einige der Vertreter nicht immer korrekt handelten: Sie berechneten zu viel für die Bestellungen, sie gaben gegenüber ihrer Firma höhere Spesen an … Insgesamt kein großer Betrug, aber durchaus kleine Betrügereien, also war es besser, nicht die echten Namen zu nennen.
Nachdem der Roman erschienen war, hat jemand eine interessante Lesart gefunden: Die Buchstaben seien vergleichbar mit den Zahlen in Statistiken, als ob die jeweiligen Personen austauschbar seien. In gewisser Weise trifft das auf die Vertreter zu: Niemanden – außer ihnen selbst, die sich in einer sehr prekären Situation befanden – scherte es, dass der Beruf ausstarb. Es ist das gewöhnliche Individuum mit seinen kleinen Freuden und Sorgen, das irgendwann nicht mehr zählt: für das System, für den Staat, für Unternehmen, sogar für die Literatur.
Liest man Ihren Roman, fallen die vielen Referenzen an das Kino ins Auge. Paper Moon (USA 1973) oder The Kid (USA 1921) von Charlie Chaplin sind Filme, die die Erzählerin und ihr Vater teilweise mehrfach im Kino anschauen. Welche Rolle kommt der Welt der Filme in Ihrem Roman und dem Leben Ihrer Figuren zu?
Ich habe als Kind viel Fernsehen geschaut. Und ich erinnere mich, dass sie eines Nachmittags in einer Sendung namens „Tardes de Cine“ (Kinonachmittage) den Film Paper Moon zeigten. Es war die Geschichte eines kleinen Mädchens und ihres Vaters, eines Handelsvertreters. Sie fuhren über die Straßen der Vereinigten Staaten, die in meinen Augen einer Siebenjährigen dieselben waren wie die Straßen, über die mein Vater und ich fuhren. Das Mädchen rauchte, und das machte einen großen Eindruck auf mich. Ich wollte auch rauchen, wie mein Vater, seine Freunde und das Mädchen im Film. Es war, als ob alles zur selben Vorstellungswelt gehörte: die Filme, die Zigarette, die Straßen. Und ich weiß noch, wie ich zu meinem Vater sagte: Es gibt einen Film, in dem wir vorkommen. Denn es war auch ein Film über die Liebe zwischen einem unverantwortlichen Vater und seiner Tochter, die ihn trotz allem maßlos bewunderte. Eine schöne Geschichte. The Kid und Der rote Ballon (Kurzfilm, Frankreich 1956), die habe ich damals im Kino gesehen, und irgendwie kam es mir so vor, als ob diese Kinder meine Freunde hätten sein können.
Das Kino kann Weltflucht bieten, aber die Welt da draußen verschwindet deshalb nicht. Eindrücklich erzählen Sie von den Gräueln der Militärdiktatur. Was hat Sie an dieser Zeit erzählerisch am meisten interessiert, und wie würdigt man diese Zeit angemessen?
Mich interessieren die Nebenfiguren dieser Epoche. All die Menschen, die auf den Fotos der damaligen Zeit im Hintergrund zu sehen sind, sind unscharf. Mich interessiert, wie sich die Diktatur auch auf ihr Leben auswirkte. Wie sich die Gespräche innerhalb der Familien veränderten, das bereits erwähnte Fernsehprogramm.
Auch die verschiedenen Ebenen, in die sich derartige Erfahrungen auffächern. Denn inmitten der Tragödie – Frauen auf der Suche nach ihren Ehemännern, Eltern auf der Suche nach ihren Kindern, Häuser, die zu geheimen Haftanstalten wurden – gingen die Kinder weiterhin zur Schule, war das Kino geöffnet, verliebten sich die Menschen. Mich interessiert diese nicht-absolute Dimension der Erfahrung, in einer Diktatur zu leben, über die nicht viel gesprochen wird, weil sie ein bisschen unangenehm ist: Wie war es möglich, einen Film zu sehen, während gleichzeitig Menschen gefoltert wurden? Wie war es möglich, weiterhin Geburtstage zu feiern? Wusste man es nicht oder wollte man es nicht wissen? Das sind Fragen, die zumindest ich interessant finde, weil sie den Menschen in seiner Komplexität zeigen. Es geht mir nicht darum, zu sagen, wer der Gute oder der Böse war, denn ich denke, das ist inzwischen mehr oder weniger klar.
Das Verbrechen und die Gewalt blitzen in Ihrem Roman immer wieder eindrücklich auf und machen klar, wie prägend die Erfahrung dieser Gewalt bereits für Kinder war. Nun jährt sich in diesem Jahr der blutige Militärputsch Augusto Pinochets in Chile zum 50. Mal. Wenn Sie den Blick zurückwerfen, wie es die Erzählerin in Ihrem Roman tut: Sehen Sie die Gewalt und Gewalterfahrungen der Menschen heute als überwunden an, oder sind die Folgen dieser Zeit immer noch zu spüren?
Es gibt immer noch Chileninnen und Chilenen, die nach den sterblichen Überresten ihrer Angehörigen suchen, und solange wir nicht wissen, wo diese Leichen sind und wer für den Tod dieser Menschen verantwortlich ist, solange die Verantwortlichen nicht vor Gericht gestellt werden, können wir nicht davon sprechen, dass der Prozess abgeschlossen ist.
Außerdem scheint mir, dass die Zeit leider nicht so funktioniert wie der Zeitstrahl, den man uns in der Schule beigebracht hat: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind keine Dinge, die man genau voneinander trennen kann, im Gegenteil, sie beeinflussen sich ständig gegenseitig. Es gibt Dinge, die bleiben, wie die Angst vor Meinungsverschiedenheiten oder das Gegenteil davon: die Tendenz, jeden Andersdenkenden zum Feind zu erklären. Vielleicht hat manches davon seine Wurzeln in diesen traumatischen Jahren. Denn mit etwas Abstand betrachtet sind es Haltungen, die mit Misstrauen und vor allem mit Angst zu tun haben.
Welche Rolle kann der Literatur bei der Verarbeitung dieser Erfahrungen und der Folgen jener Zeit zukommen?
Es ist schwierig, von Büchern etwas Außerliterarisches zu verlangen. Aber wenn das Buch von einer menschlichen Erfahrung erzählt, regt es uns vielleicht dazu an, einen Moment lang über unsere eigenen Erfahrungen nachzudenken, darüber, wie sich bestimmte Erlebnisse auf uns und andere auswirken. Vielleicht denken wir darüber nach, wie viel irreparabel ist und welche Dinge repariert oder anders gemacht werden können. Aber die Wahrheit ist: Ich weiß es nicht, denn was ein Buch in uns auslöst, hängt stark von unserer eigenen Geschichte ab.
Das Interview wurde schriftlich und auf Spanisch geführt.
Fragen von Marius Müller (buch-haltung.com), Übersetzung von Corinna Santa Cruz.
Die Autorin
María José Ferrada, geboren 1977 in Chile, ist Journalistin und Autorin. Sie hat über 50 Kinderbücher verfasst, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Kramp ist ihr erster Roman für Erwachsene und wurde mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt überwiegend in Santiago de Chile.
Der Übersetzer
Peter Kultzen, geboren 1962 in Hamburg, lebt als freier Lektor und Übersetzer aus dem Spanischen und Portugiesischen in Berlin. 1994 und 2011 erhielt er den Übersetzerpreis der Botschaft von Spanien in Deutschland.