Das Chaos nicht mehr hören


Autorin Caroline Wahl im Büchergilde-Interview

Als wäre Mitte 20 sein nicht schon Struggle genug, muss sich Mathematikstudentin Tilda auch um ihre kleine Schwester Ida und ihre alkoholkranke Mutter kümmern, den Haushalt schmeißen und an der Supermarktkasse arbeiten. Nur im Freibad findet sie ein wenig Auszeit von der harten Realität. Als plötzlich Viktor auftaucht, der eine ganz eigene Dunkelheit mit sich bringt. Mit 22 Bahnen hat Caroline Wahl ein poetisches wie eindringliches Debüt geschrieben.

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Das Ausgangssetting deines Romans ist von dreierlei Natur: Einerseits geht es um das Leben in der Kleinstadt und den unterdrückten Wunsch, diesem grauen Alltag zu entfliehen, andererseits um die prekäre Lage der Protagonistin und ihre große Liebe zur kleinen Schwester, und zuletzt kehrt fünf Jahre nach dem Tod seines Bruders ein alter Bekannter in die Kleinstadt zurück. Was war zuerst da?

Zuerst war auf jeden Fall Tilda da, weil ich eine starke junge Frau, eine Heldinnenfigur schaffen wollte, und dann habe ich mir überlegt, wie ihr Alltag aussieht. Es war schnell klar, dass sie Mathematik studiert, dass sie im Supermarkt jobbt und dass sie eine kleine Schwester hat, die sie beschützt, weil ihre Mutter alkoholkrank ist. Als ich dann den ersten Tag von Tilda geschrieben habe, wie sie im Schwimmbad war, stand da auf einmal Viktor auf dem Block. Und dadurch hat sich auch noch eine kleine Liebesgeschichte reingeschlichen. Somit waren gleich zu Beginn alle Handlungsstränge geöffnet.

 

Du sagst, dass dir sofort klar war, dass Tilda Mathematik studiert. Wie kam das?

Ich wollte, dass sie aus schwierigen Verhältnissen kommt, und habe dann entschieden, dass die Mutter Alkoholikerin ist, unter anderem, weil ich zu dem Zeitpunkt, als ich den Roman verfasst habe, ebenfalls Umgang mit einer alkoholkranken Person hatte. Und dann lag auf der Hand, dass Tilda einen naturwissenschaftlichen Hintergrund hat, weil sie Logik und Berechnung braucht, um in das Chaos zu Hause Struktur bringen und es ordnen zu können – ich glaube, sie würde verrückt werden, wenn sie ebenfalls schreiben oder Literatur studieren würde. Mathematik als quasi Ur-Naturwissenschaft war für mich da das Naheliegendste. Sie ist neben dem Freibad Tildas zweiter Schutzraum.

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Und wie hast du die Alkoholkrankheit der Mutter recherchiert?

Ich habe versucht, alles zu bekommen, was ich dazu kriegen kann: Ich habe viel gelesen, geschaut, gehört, mit einer Person gesprochen, die in einer Suchtstation arbeitet, und mit Medizinern. Ich habe mich richtig in die Thematik reingeschmissen. Meine größte Angst war, dass ich etwas falsch darstelle oder jemandem zu nahe trete, der dem ausgesetzt ist, dass Leute sagen könnten: Das ist Aneignung. Aber die Reaktionen bisher waren voll gut. Das sind die Rückmeldungen, die mich am krassesten berühren und überwältigen: wenn Leser:innen, die das selbst erlebt haben, zu mir kommen und sagen, dass sie die Alkoholkrankheit adäquat dargestellt finden.

 

Während Tilda täglich die titelgebenden 22 Bahnen im Schwimmbad schwimmt, kommt Ida nur bei schlechtem Wetter mit, nie bei Sonnenschein; in einem Fiebertraum später wird ihnen das Meer sogar fast zum Verhängnis, während der Traum, ihrer Schwester das Meer zu zeigen, Tilda den ganzen Roman begleitet. Warum ist Wasser für die beiden so relevant?

Einerseits, weil mir selbst das Wasser wichtig ist, und wenn es in meinem Leben so eine zentrale Rolle spielt, können sich auch meine Figuren nicht davon lösen. Für Tilda und Ida ist das Meer ein Sehnsuchtsort, weil sie nicht wie andere Familien einfach hinfahren können. Das Meer ist zu weit weg für sie und symbolisiert Freiheit und Urlaub zugleich, etwas, das ihnen vorenthalten wird. Wasser als Element ist auch deshalb relevant, weil beide darin abtauchen und unter Wasser die Geräusche von außen und somit das Chaos nicht mehr richtig hören. Es ist ein Fluchtpunkt, wo sie sich wohlfühlen und dem Schlimmen für kurze Zeit entkommen können.

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Wieso fällt es Tilda ausgerechnet bei dem Fremden Viktor einfacher, eine gewisse Nähe aufzubauen, statt bei ihren Freund:innen von früher wie zum Beispiel Marlene?

Weil Viktor eine Art Spiegelfigur von Tilda ist. Tilda ist überall höchstens halb integriert; sie ist eine Außenseiterin, die nirgendwo richtig dazugehört und auch nicht dazugehören will. Ebenso wenig lässt sich Viktor einer Gruppe zuordnen. Auch er ist ein Einzelgänger, und auch er hat einen naturwissenschaftlichen Hintergrund. Beide haben Dinge, die sie nicht loslassen, und deswegen können sie sich gegenseitig öffnen und helfen – Viktor ist der einzige Mensch, dem sich Tilda auf diese Art nähert.

 

Was auch auffällt: Dein Roman ist relativ zeitlos; es wird zwar hin und wieder erwähnt, dass die Figuren Smartphones besitzen, ansonsten gibt es keinerlei zeitliche Marker, keine historischen Ereignisse. Wieso?

Das war mir sehr wichtig! Ich wollte unbedingt eine zeitlose Geschichte erzählen, die viele Menschen anspricht und in der Social Media und der ganze andere Mist keine Rolle spielt, und genauso wollte ich, dass Tilda und Ida in jeder deutschen Kleinstadt wohnen könnten und das Setting auch in der Hinsicht nicht einordbar ist. Es ist eine Heldinnengeschichte ähnlich wie ein Märchen, und bei Märchen ist es auch egal, wann und wo sie spielen.

 

Zum Schluss finde ich interessant, dass du in der Widmung vor Beginn des Romans explizit über deine Mutter sagst, dass sie immer für dich da war …

Meine Intention war, zu signalisieren, dass die Handlung nichts mit meiner Mutter und mir zu tun hat. Meine Mutter hat von Anfang an mitgelesen und meine kleine Schwester auch – meine beiden größeren Brüder übrigens nicht. Und deswegen wollte ich den Roman erst meiner Mutter und meiner Schwester widmen, aber dann hatte ich die Befürchtung, man könne die Geschichte doch mit meinem eigenen Leben verknüpfen, und so bin ich bei meiner Mutter geblieben. Die hat es auch am meisten verdient.

 

Vielen Dank für das Gespräch

 

Die Fragen stellte Isabella Caldart.

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Die Autorin

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© Stefan Krüter

Caroline Wahl, geboren 1995 in Mainz, wuchs in der Nähe von Heidelberg auf. Sie studierte Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin. Danach arbeitete sie in mehreren Verlagen. 22 Bahnen ist ihr Debütroman. Caroline Wahl lebt in Rostock


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