Der verlorene Sohn
Wenn der vermeintlich nach der Geburt verstorbene Sohn sich vierzig Jahre später plötzlich meldet: Der Hallenser Autor Matthias Jügler verarbeitet in seinem Roman Maifliegenzeit ein bis dato kaum aufgeklärtes DDR-Verbrechen.
Drei Wörter, die ein ganzes Leben verändern: „Daniel hat angerufen.“ Daniel, das ist Hans ’ Sohn, der vor vierzig Jahren direkt nach der Geburt verstarb. Aber nein, er hat angerufen – Daniel lebt. Daniel lebt, Daniel heißt Martin, und seine Eltern hatte man angelogen, damals im Mai 1978, im Krankenhaus, während der Diktatur. Voller Freude und Hoffnung hatten Hans und Katrin der Zukunft entgegengeschaut, um diese dann zerstört zu sehen, als ihr Säugling wenige Stunden nach der Geburt vermeintlich verstarb. Katrin aber ahnte sofort: Da stimmt etwas nicht, das kann einfach nicht sein.
›Wo die Ungewissheit endet, beginnt das Träumen.‹ (mehrfach)
Wie recht die junge Mutter mit ihrem Verdacht hatte, weiß Hans heute, als Rentner. Im Laufe der Jahre, vor allem nach Katrins frühem Tod und dem Fall der Mauer, hat er immer mal wieder versucht, Akteneinsicht zu bekommen, um herauszufinden, was wirklich geschehen war, dann jedoch schnell wieder aufgegeben. Und jetzt ruft Daniel – Martin – an, und Hans muss seine ganze Welt neu zusammensetzen und realisieren, dass diese langen vierzig Jahre nicht einfach so zu überbrücken sind. „Manchmal“, so begreift Hans, „erkennt man die wahren Umrisse der Dinge erst im Laufe der Zeit, ob man will oder nicht.“
In seinem dritten Roman Maifliegenzeit verarbeitet Matthias Jügler ein Thema, das in der deutsch-deutschen Öffentlichkeit bisher sehr wenig diskutiert wurde: den Raub von Kindern in der DDR. „Zwangsadoption, natürlich, das habe es gegeben“, heißt es an einer Stelle, aber: „einen vorgetäuschten Kindstod? Unter Franco, in Spanien, sicher, aber in der DDR?“ Ja, in der DDR: Mindestens drei Fälle seien bisher aufgeklärt, versichert der Autor in der Nachbemerkung, „die Zahl der Verdachtsfälle liegt jedoch bei 2000“.
Maifliegenzeit ist in zweierlei Hinsicht lesenswert. Zum einen wirft Jügler ein Schlaglicht auf dieses Unrechtsthema. Eben nicht nur in Spanien oder in lateinamerikanischen Diktaturen, auch in der DDR wurden Eltern gezielt belogen und von ihren Kindern getrennt. Der Roman ist aber nicht nur aufgrund dieser Geschichte bemerkenswert, sondern auch wegen seiner literarischen Qualitäten. Einfühlsam, allegorisch und poetisch nähert sich Jügler diesem schwierigen Thema an. Der Autor tappt nicht in die Falle, den LeserInnen und seinen Figuren ein spätes Happy End aufzutischen. Gekonnt gelingt es ihm, die dumpfe Verzweiflung von Hans darzustellen, der lange Zeit verdrängt, weil die Anschuldigung von Katrin so ungeheuer und der (vermeintliche) Verlust des Sohns so groß ist, dass er nicht glauben kann, nicht glauben will, etwas anderes könnte am Werk sein. Er beschließt, auf die einzig ihm schlüssige Art weiterzuleben: die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Und doch ist Hans das nie ganz möglich, wird sein ganzes weiteres Leben durch diesen Verlust geprägt sein.
Matthias Jüglers Maifliegenzeit ist ein ruhig erzählter, realistischer Roman eines Unrechts, das zu groß ist, um je gesühnt werden zu können. Ein wichtiger literarischer Beitrag, mit dem sich der Hallenser Autor in die erste Riege der ostdeutschen SchriftstellerInnen schreibt.
Isabella Caldart arbeitet als freie Journalistin, Literaturvermittlerin, Social-Media-Redakteurin und Moderatorin und macht gerne mal Buchbesprechungen für ihren BookTok-Kanal isi_peazy.
Der Autor
Matthias Jügler, geboren 1984 in Halle/Saale, studierte Skandinavistik und Kunstgeschichte in Greifswald und Oslo sowie Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2022 erhielt er den Klopstock-Preis für Literatur des Landes Sachsen-Anhalt. 2023 war Jügler Stadtschreiber von Halle. Er lebt mit seiner Familie in Leipzig, wo er auch als freier Lektor arbeitet.