Mit Sinn für Zwischenmenschliches und Absurdes
Eva Sabrina Atlan im Gespräch über Rosy Lilienfeld
Exklusiv in der Büchergilde Gutenberg erscheint Franz Kafkas Die Verwandlung erstmals mit Kohlezeichnungen der jüdischen Künstlerin Rosy Lilienfeld (geboren in Frankfurt am Main 1896, ermordet im KZ Auschwitz 1942). Ein Gespräch mit Eva Sabrina Atlan, stellvertretende Direktorin des Jüdischen Museums in Frankfurt, über die Wiederentdeckung der lange vergessenen Künstlerin, ihr Leben, ihre Kunst und ihren Bezug zu Kafka.
Frau Atlan, Sie, beziehungsweise das Jüdische Museum, forschen seit Jahrzehnten zu Rosy Lilienfeld. Wie kam es überhaupt zur Entdeckung dieser Künstlerin?
Das Jüdische Museum war von Beginn an darauf fokussiert, Künstler der sogenannten verlorenen Generation, also jüdische Künstler, die in den 1920er- und 1930er-Jahren gearbeitet haben und durch den Nationalsozialismus Deutschland verlassen mussten oder deportiert wurden, für die Sammlung aufzukaufen und ins Museum zu bringen. Ich habe Rosy Lilienfeld 2005, als ich im Museum anfing, in unserer Sammlung entdeckt.
Wie genau kann man sich diese Entdeckung vorstellen?
Ich kam damals für die Kunstsammlung ins Haus, und um zu wissen, was wir überhaupt haben, bin ich alle Grafikschränke und unser Depot durchgegangen, wo ich ihre Zeichnungen in Passepartouts entdeckt habe. Das Museum hatte die Bilder von Rosy Lilienfeld angekauft, weil sie eine Frankfurter Künstlerin war, doch dann ist mit den Sachen nichts passiert. Ich fand sie sofort interessant, aber ihr Name sagte mir gar nichts. Ich konnte auch nur, weil wir eine Datenbank über die Deportierten aus Frankfurt haben, ihre Lebensdaten herausfinden. Ich habe dann eine Zeichnung von ihr mit Frankfurter Stadtansichten auf die Website gestellt, woraufhin Kunsthändler auf uns zukamen, die Arbeiten von ihr besaßen. So ist die Sammlung gewachsen. Außerdem hat die hiesige Universitätsbibliothek die ganzen jüdischen Zeitungen der 1920er- und 1930er-Jahre digitalisiert, wodurch ich mehr über sie herausfinden konnte.
Was können Sie mir über Rosy Lilienfeld als Künstlerin verraten?
Sie selbst bezeichnete sich als Bildhauerin, Malerin und Grafikerin, eine leider verschollene Novelle hat sie außerdem geschrieben. Nach allem, was wir wissen, fertigte sie ihre Grafiken am Städel (Anm. d. Red.: eine ans gleichnamige Museum angegliederte Schule für bildende Künste in Frankfurt) an, wo sie studierte und ein Atelier mit Druckerpresse hatte.
Das früheste Werk, das wir von ihr kennen, eine Radierung, stammt von 1918, ihrem ersten Jahr am Städel. Sie stellte ihre Kaltnadelradierungen selbst her, und sie hat sich für verschiedene Techniken interessiert, für Tusche-, Bleistift- oder wie bei ihren Kafka-Illustrationen für Kohlezeichnungen. Diese sind auch sehr gut erhalten – sie stammen vom Ende der 1920er-Jahre und strahlen trotzdem noch. Sie ist mit den Materialien, mit denen sie gearbeitet hat, sehr professionell umgegangen.
Wie kann man sich ihr Leben als jüdische Künstlerin zu jener Zeit vorstellen?
Wir können davon ausgehen, dass Rosy Lilienfeld oft ein wenig einsam war, dass sie sich sehr stark konzentriert hat auf ihre Kunst, und das auf recht obsessive Weise. Das zeigt die hohe Anzahl von Werken, die in einem kurzen Zeitraum entstanden sind. Wir wissen auch, dass sie an Depressionen litt und in Behandlung war, teilweise Klinikaufenthalte hatte, und entsprechend keine Grande Dame war wie zum Beispiel ihre Zeitgenossin Erna Pinner (Anm. d. Red.: 1890–1987) die auf Modezeitschriften abgebildet wurde und im Rampenlicht stand. Lilienfeld hatte dennoch immer im Blick, sich als Künstlerin zu positionieren, hat Artikel in Zeitungen publiziert und Selbstbildnisse von sich im Malerkittel gemacht, was auf ein großes Selbstbewusstsein hinweist. Sie zeigte dadurch: Ich bin von Beruf Künstlerin, nicht einfach nur eine aquarellierende Dame.
Als Frau bestimmt gar nicht so leicht …
Die 1920er-Jahre waren für Künstlerinnen natürlich nicht einfach, vor allem, wenn sie jüdische Künstlerinnen waren. Es gab aber auch Intellektuelle, die sie gefördert haben, darunter die Kunsthistorikerin und Journalistin Sascha Schwabacher, die eng mit Georg Swarzenski (Anm. d. Red.: 1876–1957, Leiter des Städel Museums und Autor bei der Frankfurter Zeitung) verbunden war. Die Frankfurter Zeitung ist aber leider nicht komplett digitalisiert, da muss man die Mikrofiches durchgehen, was sehr schwierig ist. Es ist eine große Forschungsarbeit, all dies zu durchforsten.
Rosy Lilienfeld hat mehrere literarische Werke illustriert, neben Kafka unter anderem auch welche von Fjodor M. Dostojewski und Edgar Allan Poe. Wie kam es dazu?
Zu jener Zeit, gerade nach dem Börsencrash von 1929, war es für Künstler schwierig, ihre Kunst auf dem freien Markt zu verkaufen; sehr viele Gemälde aus dem 18. und 19. Jahrhundert wurden von Sammlern veräußert. Die Frankfurter Künstlerhilfe war eine Hilfe, weil sie Werke von jungen Künstlern ankaufte. Aber das reichte nicht allen zum Überleben.
Ich vermute stark, Lilienfeld hat sich auf Grafiken und Illustrationen fokussiert, weil sie hoffte, dass die Bücher mit ihren Bildern neu aufgelegt würden – so wie jetzt mit Kafka geschehen. Sie interessierte sich auch für zeitgenössische Werke, wie zum Beispiel Joseph Roths Hiob, der zunächst teilweise in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht wurde, bevor er als Buch herauskam. Zeitungen waren ein Medium, wo man Illustrationen publizieren und so zu Geld kommen konnte. An Kafka oder Poe sieht man zudem auch, was für Themen sie interessiert haben.
Das sagen Sie in Ihrem Nachwort zur Büchergilde-Ausgabe so schön: »Offenbar interessiert sie das Absurde und Ironische.«
Ganz genau. Das wird auch in einem historischen Zeitungsartikel angemerkt: dass sie für eine Frau sogar Humor hatte. Heute klingt dieser Kommentar natürlich ganz anders, aber für die 1920er-Jahre war das außerordentlich. Es war damals schwierig, als Künstlerin überhaupt akzeptiert und ernst genommen zu werden. Und dass eine Frau Humor hat und das dann auch noch künstlerisch umsetzt!
Was hat sie an Kafka noch interessiert?
Die Themen, die er aufgreift, die Analyse von zwischenmenschlichen Beziehungen, das ist zeitlos, und dann findet sich in seinem Werk oft etwas Ironisches oder Skurriles. Das macht den Charme seiner Texte aus. Auf diese Aspekte hin Die Verwandlung noch mal zu lesen war spannend. Ich habe mich dabei gefragt, was Rosy Lilienfeld als Künstlerin gereizt und welche Motive sie warum aufgegriffen hat. Sie hat ihren Fokus natürlich auf den Protagonisten gesetzt, auf Samsa als Käfer, den sie naturalistisch zeichnet. Die Figuren um ihn herum werden zum Teil expressionistisch, zum Teil realistisch, aber in einem reduzierten Expressionismus dargestellt. Die Konfrontation dieser zwei Welten finde ich sehr interessant.
Wir haben eine detaillierte Liste von jedem einzelnen Objekt in Lilienfelds Haushalt, die sie machen musste, als sie mit ihrer Mutter einen Ausreiseantrag stellte. Darunter sind auch zoologische Bücher. Ich bin mir sicher, dass sie sich die naturwissenschaftlichen Darstellungen und Fotografien von Käfern angeschaut hat, um Samsa dann sehr detailgetreu zu zeichnen. Er sieht aus, wie ein Käfer eben aussieht. Sie verleiht ihm aber etwas Menschliches, man sieht ihn etwa, wie er aus dem Fenster schaut. Und man erkennt auch ihre Interpretation: In der Geschichte sind die Eltern und die Schwester eher erleichtert, als er stirbt, aber sie zeichnet sie trotzdem betrübt.
Sind die Bilder wegen Lilienfelds Interpretation so düster, oder wirken sie aufgrund der Kohle so?
Auf den ersten Blick kann man das meinen, aber wenn man sich die Bilder genauer ansieht, erkennt man, wie lebhaft ihre Zeichnungen sind durch die Bewegung, die Schnelligkeit, die teilweise dargestellt wird, die dann, obwohl sie in Schwarz-Weiß gehalten sind, gar nicht mehr so dunkel sind.
Die Stimmung liegt in der Tat aber auch am Material: Viele Künstler fertigten damals Kohlezeichnungen an, weil das gerade noch erschwinglich war. Und nicht zuletzt wollte Lilienfeld ihre Zeichnungen abdrucken lassen, es sind also sozusagen Druckvorlagen für eine Zeitung oder ein Buch, die nicht farbig sein müssen. Ich freue mich sehr, dass ihr Wunsch jetzt in Erfüllung geht und Rosy Lilienfelds Kafka-Zeichnungen zum ersten Mal zusammen mit seinem Text verlegt werden. Das ist wirklich sehr schön.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Atlan
Die Fragen stellte Isabella Caldart.
Impressionen von Lesung und Gespräch im Jüdischen Museum Frankfurt
Der Autor
Franz Kafka (1883–1924) zählt zu den bedeutendsten Autoren deutschsprachiger Literatur und veröffentlichte neben seinen Romanen eine Vielzahl von Erzählungen. Ein Großteil seines Werks wurde nach seinem Tod von seinem Freund und Nachlassverwalter Max Brod herausgegeben. Seine Werke zählen zum Kanon der Weltliteratur.
Die Illustratorin
Rosy Lilienfeld (1896–1942), geboren in Frankfurt am Main, war eine deutsche Expressionistin. Als jüdische Künstlerin wurde sie durch das nationalsozialistische Regime in Auschwitz ermordet. Ihre Werke zählen zu denen der »Verschollenen Generation« und wurden erstmals im Jahr 2022 vom Jüdischen Museum Frankfurt in einer Ausstellung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.