Allgegenwärtig
Autor und Rapper Kurt Tallert im Büchergilde-Interview
Der Autor und Rapper Kurt Tallert alias Retrogott unternimmt in Spur und Abweg den Versuch, sich den Erfahrungen seines Vaters, der von den Nationalsozialisten als sogenannter »Halbjude« verfolgt und inhaftiert wurde, schreibend anzunähern.
Ihr Buch ist eine Erforschung Ihrer jüdischen Familiengeschichte und Identität, aber auch allgemein menschlicher Ambivalenzen. Gab es einen Punkt, an dem Sie dachten: Jetzt muss ich dieses Buch schreiben?
Das Buch ist auf einen langen Prozess zurückzuführen. Dieser begann, als meine Eltern erste aufklärende Gespräche über die Geschichte meines Vaters mit mir führten. Es war mir von klein auf ein Bedürfnis, meine Vorfahren damit nicht im Stich zu lassen und immer daran zu erinnern. Als ich mit 25 selbst das erste Mal Vater wurde, kam mit der Frage, was für ein Vater ich sein würde, erneut die Frage auf, wer mein Vater war, und damit auch die Frage nach seiner Herkunft.
Ein anderes wichtiges Ereignis war 2018 der Brand im Haus meiner Eltern, bei dem der schriftliche Nachlass meines Vaters verschont geblieben war, darunter Briefe, die er seiner Mutter und seiner Schwester aus der Lagerhaft geschrieben hatte. So kam ich erst an die Briefe, und von da an arbeitete ich gezielt an einem Buch, das auf diesem Nachlass aufbauen sollte.
Dem Cousin Ihres Vaters hat die jüdische Identität viel bedeutet, für Ihren Vater, der von den Nationalsozialisten als »Halbjude« verfolgt wurde, war sie eher ein unliebsames Anhängsel. Nachdem Sie sich intensiv mit Ihrer Familiengeschichte beschäftigt haben: Hat sich Ihr eigener Bezug dazu geändert?
Für den Cousin meines Vaters war die jüdische Identität ein Fakt und keine Frage der Interpretation. Da mein Vater aber aus einer interreligiösen Ehe mit einer Christin hervorgegangen war, verband sich mit ihr die ambivalente Hoffnung, man könnte sie verbergen. Die jüdische Herkunft war etwas, wovor er und seine Familie Angst hatten, und diese Ängste bestätigten sich, als er schließlich in Gestapo-Haft landete. Später wurden daraus Schuldgefühle, denn man hatte ja versucht, sich aus der Affäre zu ziehen, und war damit auch noch gescheitert, hatte aber – im Gegensatz zu den jüdischen Verwandten – überlebt. Wahrscheinlich habe ich auch deshalb als Nachfahre das Bedürfnis, mich klar dazu zu positionieren.
Als Kind misstraute ich der Aussage meiner Eltern, schon mein Großvater habe mit dem Judentum nichts am Hut gehabt. Die erfolgreiche Integration oder Assimilation als Selbstschutz ist in der Geschichte meiner Familie hinfällig geworden. Mein Buch leistet einen Beitrag zum Gedenken und kommt damit auch einem Wunsch nach Zusammenhalt nach, ist Ausdruck von Loyalität und Liebe zu Menschen, deren Individualität nur Anerkennung finden kann, wenn sie auch in ihrer Teilhabe am Kollektiv des Judentums gesehen werden.
Sie schildern mehrfach den inneren Kampf, sich einerseits Ihrem Vater und Großvater schreibend annähern und deren Geschichten festhalten, sie sich aber andererseits natürlich nicht zu eigen machen zu wollen. Gleichzeitig haben diese Geschichten Ihr eigenes Leben geprägt. Können Sie von diesem inneren Konflikt erzählen?
Die Angst vor dem Vorwurf der Aneignung ist sehr ambivalent. Gewissermaßen hat sich die Geschichte ja auch mich zu eigen gemacht aber es ist zu komplex, das hier auszuführen. Dieser Konflikt besteht jedenfalls und kann nicht aufgelöst werden, er kann aber in die Perspektive der Menschlichkeit aufgenommen werden. Ich kann und möchte mich aus der individuellen Geschichte meines Vaters nicht
herausnehmen, und daraus ergeht auch eine Teilhabe an einer kollektiven Geschichte.
Die Menschlichkeit stand dabei für meinen Vater immer an erster Stelle. Gleichzeitig darf diese Menschlichkeit aber nicht davon abhängen, dass wir nur noch auf irgendeine ganz abstrakte Weise Menschen sind, sondern dass ein Mensch als Jude und mit jeder anderen Identität als Mensch anerkannt wird und sich nicht als solcher erst zu behaupten hat. Deshalb wende ich mich am Ende des Buches auch an meine jüdische Urgroßmutter in einem sehr persönlichen Brief, um ihrer so menschlich wie möglich zu gedenken.
Sie waren bereits als Sechsjähriger mit Ihrer Mutter in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald. Wie haben Sie diesen Besuch in Erinnerung?
Während dieses Besuchs eröffnete meine Mutter mir, dass die Nazis auch meinen Vater und dessen Familie aufgrund ihrer jüdischen Identität verfolgt hatten. Von da an stellte sich mir die Frage, was das Judentum für mich für eine Rolle spielt, auch wenn ich selbst nicht jüdisch bin. Das war also ein sehr einschneidendes Erlebnis. Ich sah diesen Ort als einen Abschnitt der Vergangenheit, der aber bis in meine Gegenwart hineinreichte. Wann immer ich in den folgenden Jahren vom Nationalsozialismus hörte, erinnerte ich mich an diesen Besuch der Gedenkstätte und hatte über meinen Vater einen persönlichen Bezug. Es fühlte sich ein wenig so an, als habe meine Mutter mir dort eine Verpflichtung vermittelt.
Ihnen wurde früh klar, dass Ihre Perspektive auf die Welt und die Menschen eine etwas andere war als die von Gleichaltrigen. An einer Stelle im Text heißt es, eine Erfahrung »stellte etwas zwischen mich
und meine Zeitgenossen«. Woran haben Sie diese Distanz bemerkt?
Meine Zeitgenossen hatten ein ganz anderes Verhältnis zur Vergangenheit. Sie konnten darüber sprechen oder auch schweigen, ohne sich dabei persönlich involviert zu fühlen, natürlich auch Witze darüber machen, es ignorieren oder gar abstreiten. In der Blase, in der ich lebte, war diese Vergangenheit viel gegenwärtiger. Das Bewusstsein für diese Geschichte schaffte Distanz zu den Menschen, mit denen ich meinen Alltag erlebte, etwa in der Schule. Gleichzeitig schuf es eine Nähe zu den Toten. Daraus erging wohl auch eine Abkehr, die mehr von mir selbst ausging als von meiner Umwelt. Bei den Reaktionen auf den gegenwärtigen Antisemitismus in der Welt bemerke ich auch heute noch diese Distanz.
Lieben Dank für das Gespräch, Kurt Tallert!
Die Fragen stellte Sophie Weigand.
Der Autor
Kurt Tallert, geboren 1986 in Bad Honnef, studierte Germanistik und Hispanistik in Aachen und Santiago de Chile. Unter dem Künstlernamen »Retrogott« prägt er als Rapper, DJ und Produzent seit mehr als zwanzig Jahren die deutsche Hip-Hop-Szene und veröffentlichte zahlreiche Alben. Spur und Abweg ist sein schriftstellerisches Debüt.