Coming of Age in der Adenauerzeit


Uwe Timm im Interview mit der Büchergilde

Uwe Timm zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der deutschen Gegenwartsliteratur, immer wieder hat er in seinen Texten an seinem eigenen Leben entlang geschrieben. In Alle meine Geister blickt der 83-Jährige nun auf seine Jugendzeit zurück. Ein Gespräch mit dem Autor über Erinnerungen und den Zauber des Lesens.

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Herr Timm, Sie haben mehrere Bücher geschrieben, in denen Ihre eigene Biografie eine Rolle spielt. Doch Alle meine Geister ist vielleicht Ihr persönlichstes Buch. Wann haben Sie sich dafür entschieden, die Zeit Ihrer Jugend literarisch zu verarbeiten?

In fast allen Büchern, auch in den Romanen, sind solche biografischen Momente. Oft sind das die Treibsätze für die Imagination und das Schreiben. Ausgesprochen biografisch waren die 2003 erschienenen Bücher Am Beispiel meines Bruders und Der Freund und der Fremde. Das erste erzählt aus meiner Kindheit, von dem in der Ukraine gefallenen Bruder, der ein Tagebuch hinterlassen hat. Das andere von der Freundschaft mit Benno Ohnesorg im Braunschweig-Kolleg. Die Zeit dazwischen erstreckt sich von 1955 bis 1961, in der ich meine Lehre gemacht und danach ein Geschäft geleitet habe. Das ist die Zeit meiner Geister. Das Buch erzählt, wenn man so will, eine Coming-of-Age-Geschichte in der Adenauerzeit.

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Die geschilderten Ereignisse liegen siebzig Jahre zurück. Wie leicht oder schwer ist es Ihnen gefallen, sich an diese Zeit zu erinnern?

Ich hatte an einem anderen Projekt gearbeitet, zu dem Recherchen und Interviews notwendig waren, dann kamen die Corona-Pandemie und der Lockdown. Zu reisen und Menschen zu treffen war nicht mehr möglich. In den zwei Jahren habe ich dann über Erinnerungen geschrieben, was ist von dieser Zeit im Gedächtnis geblieben, und, vor allem, welche Bücher habe ich damals gelesen und was waren das für Menschen, die sie mir empfahlen. Das Lesen erfolgte für den fünfzehnjährigen Lehrling nicht nach einem Schulkanon, sondern zufällig und war abhängig von den schenkenden, vermittelnden Personen. In dieser Corona-Zeit der Stille meldeten sich die fast vergessenen Personen gewissermaßen wieder, sprachen deutlicher zu mir. Zwei Jahre. Kaum eine Ablenkung. Zeit zum Nachdenken. Ich habe viel geträumt. Vieles längst Vergessene kam dadurch wieder ins Bewusstsein.

 

Welchen Ratschlag würden Sie diesem jugendlichen Ich heute geben?

Sonderbar, auf die Frage kann ich mir keine ehrliche Antwort geben. Das meiste war in dem Alter von außen vorgegeben. Von dem Vater, von der Schule, den Meistern, den Gesellen. Nicht vergleichbar mit heute,wo es eine weit größere Möglichkeit der Entscheidung, also auch der Selbstbestimmung, für Kinder und Jugendliche gibt.

 

Sie beschreiben unter anderem den Zauber, der entsteht, wenn man ein Buch das erste Mal liest. Für Alle meine Geister haben Sie einige dieser Jugendlektüren noch einmal gelesen. War der Zauber von damals noch spürbar?

Ja, sehr deutlich in dem Roman Der Idiot von Fjodor Michailowitsch Dostojewski, in Die Verwandlung von Franz Kafka und in Der Fremde von Albert Camus. Das Buch hat mich durch mein Leben begleitet, später habe ich über Camus promoviert.

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Welche Schriftsteller waren Ihre Vorbilder, als Sie mit dem Schreiben begannen?

Mit vierzehn wohl Ernest Hemingway, mit zwanzig Albert Camus, Schriftsteller, Widerstandskämpfer und politisch engagierter Publizist.

 

Und auf welche Autoren oder welche Gedichte und Prosatexte greifen Sie auch heute noch immer wieder zurück?

Heinrich von Kleist, Franz Kafka, Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Mann, Gottfried Benn, William Carlos Williams, um sechs zu nennen.

 

Gibt es ein Thema, über das Sie unbedingt noch schreiben möchten?

Ja, mehrere, aber dafür reicht die Lebenszeit nicht mehr. Ich muss jetzt wählerisch sein.

 

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Timm!

 

Die Fragen stellte Julia Schmitz.

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Der Autor

Uwe Timm, geboren 1940 in Hamburg, zählt zu den renommiertesten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur. Er schreibt Prosa, Lyrik, Essays, Hörspiele und Drehbücher. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Heinrich-Böll-Preis und den Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg. Er lebt in München und Berlin.