„Ich wollte diesen vergangenen Ichs halbwegs gerecht werden.“


Autor Benedict Wells im Büchergilde-Interview

Benedict Wells steht der Büchergilde Rede und Antwort rund um sein neues Buch Die Geschichten in uns – unter anderem, was ihm am Überarbeiten am meisten Freude macht, welche Musik er aktuell zur Inspiration hört und wie es sich anfühlt, ein Vorbild für junge Schreibende zu sein.

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Die Geschichten in uns ist Ihr erstes Sachbuch. Wie hat es sich angefühlt, über das Schreiben zu schreiben und damit auf die eine oder andere Weise selbst der Protagonist zu sein?

Bei einem Roman muss man die Wirklichkeit ein Stück weit für die Welt der fiktiven Geschichte verlassen und sich über Jahre hinweg in fremde Figuren einfühlen. Das war beides dieses Mal nicht nötig. Dafür war es anfangs tatsächlich seltsam, über mich selbst zu schreiben – und mich dem Kind anzunähern, das ich im Grundschulheim war, oder dem jungen Typen in Berlin, der in einer Bruchbude lebte und mit seinen Manuskripten abgelehnt wurde. Ich wollte diesen vergangenen Ichs halbwegs gerecht werden, aber auch den anderen Menschen in meinem Leben wie etwa meinen Eltern oder meiner Schwester.

 

Sie schreiben von der Schwierigkeit mit zu viel oder zu wenig Planung im Voraus in ein Manuskript zu gehen. Wie findet man das richtige Mittelmaß?

Wie immer gibt es beim Schreiben kein Patentrezept. Denn während viel Planung bei dem einen Roman das ideale Mittel ist, wäre es beim nächsten eventuell falsch. Das richtige Maß finde ich oft mit einer Mischung aus Intuition und Gefühl für den Text auf der einen Seite - und Trial and Error auf der anderen. Ich habe die Planung bei manchen Büchern sicher schon falsch dosiert, aber das Gute beim Schreiben ist, dass man unterwegs noch vieles ändern kann.

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Autor Benedict Wells

Musik ist eine große Inspiration für Ihr Schreiben. Geben Sie uns einen Einblick in Ihre aktuelle Musikauswahl? Was hören Sie gerade?

Eine gefährliche Frage, denn die Antwort könnte Stunden dauern (lacht). Zurzeit liebe ich auf jeden Fall Anna Erhard und ihre Songs wie „Botanical Garden“ und „Hot Family“. Ich warte sehnsüchtig auf das neue Album von Sam Fender. Nachdem ich ihr Buch gelesen habe, höre ich gerade wieder viele Songs von Judith Holofernes und Wir sind Helden, und meine Favoriten im Sommer waren „Verliebt in dieses Lied“ von Isolation Berlin und „Girl“ von Charlie XCX feat. Lorde. Und dann gibt es einfach einen ständigen Mix aus Alternative und Old School Rap und Folk und New Wave aus den 1980s und Singer/Songwritern und tatsächlich auch Jazz. Beim Schreiben dagegen höre ich eher Film-Scores oder Elektro.

 

Bei Ihrem Buch wird klar, dass das Überarbeiten einer ersten Manuskriptfassung viel zeitintensiver und kleinschrittiger ist als man als Leser:in zunächst annehmen mag. Was macht Ihnen am Überarbeiten am meisten Freude und was schieben Sie gerne auf?

Am meisten Freude macht immer der Moment, wenn man einer bestimmten Sache tüftelt und seinem Gefühl nach Fortschritte macht: Man wollte einer Figur näher kommen und feilt an vielversprechenden neuen Szenen mit ihr. Oder: Man wollte den Text kürzen und spürt, dass er jetzt ein anderes Tempo bekommen hat. Oder: man hat die Sprache geschliffen und dabei gelungene Formulierungen für ein bestimmtes Gefühl gefunden – und holt das überarbeitete Manuskript nun gespannt vom Copyshop ab, liest im Gehen schon mal hinein ... Diese Momente machen viel Spaß, wie auch das Sammeln von Ideen für Details. Was ich dagegen aufschiebe, ist immer die ausgedehnte Faktenrecherche. Das mache ich meist gegen Ende des Prozesses, dann rede ich mit verschiedenen Expert:innen und lese mich tiefer in die Materie ein. Aber erst mal möchte ich meinen Enthusiasmus ungebremst auf die Schwierigkeiten der Textarbeit prallen lassen und nicht schon währenddessen auch noch recherchieren.

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Fremde Kritik am eigenen Text kann manchmal schwer sein. Was ist das Beste und das Schwierigste am Lektorat und was macht das mit Ihnen?

Das Beste ist einfach, dass man das Glück hat, mit klugen und meinungsstarken Menschen den eigenen Text diskutieren zu können, herausgefordert zu werden. Das schlechteste gibt es nicht. Am Ende hat man ja immer ein eigenes subjektives Gefühl, was von einer Kritik man behält und was man nicht umsetzt. Die Vision von anderen für den Text ist nie komplett die gleiche wie von einem selbst, deshalb muss man schauen, welches kritische Feedback einen kalt lässt – und welches etwas mit einem macht. Tatsächlich war bei jedem Buch eine andere Leserin oder Leser der Schlüssel. Mal die Exfreundin meines kleinen Cousins oder eine neue Diogenes-Lektorin, mal mein Agent oder mein ehemaliger Lehrer. Meine eigene langjährige Lektorin dagegen ist meine Vertraute, mit ihr bespreche ich oft die Feedbacks der anderen, ihre Einschätzung ist mir unfassbar wichtig. Aber entscheidend ist am Ende immer das Gefühl, wenn man allein mit dem Manuskript ist und erspüren muss: Gebe ich der Kritik recht und will ich in diese Richtung gehen? Und wenn nicht, wieso nicht – und wohin will ich mit dem Text dann?

 

Sie nennen in Ihrem Buch mehrfach viele tolle und preisgekrönte Autor:innen, die als Vorbilder/Orientierung/Inspiration für Sie dienten. Wie fühlt es sich an, nun selbst ein Vorbild für junge Schreibende zu sein?

Solche Überlegungen sind eher surreal für mich. So sehr Schreiben auf Fantasie angewiesen ist, so wenig kann ich mir vorstellen, dass ich ein Vorbild für irgendjemand bin, ich fände diesen Gedanken auch fast anmaßend. Ich sehe uns eher alle vor dem gleichen weißen Blatt sitzend, alle Fehler machend, sich austauschend. Deshalb wollte ich auch bewusst keine Poetik schreiben und statt in den Vorlesungssaal lieber in die Schreibwerkstatt. Mein Buch speist sich aus zwanzig Jahren Erfahrung, ich fand es schön, etwas davon weiterzugeben, weil ich auf Lesungen immer wieder danach gefragt wurde. Aber das heißt nicht, dass ich nicht immer noch mit Texten auf fast lächerliche Weise scheitern kann und selbst viel dazulerne. Was mich aber als jungen Autor tröstete, war von anderen zu hören, wie sie abgelehnt wurden und welche Ängste und Zweifel sie dabei hatten oder wie viel Arbeit in einem Text steckt und wie man ihn verbessern kann. Falls also jemand mein Buch liest und sich davon ebenfalls getröstet oder auch bei der Arbeit ermutigt fühlt, wäre das ein großes Glück.

 

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Die Fragen stellte Silvia Schlicht.


Ein Date mit der eigenen Fantasie


Eigentlich wollte Benedict Wells erst mal kein Buch mehr schreiben – bis ihm dieses dazwischenkam. Die Geschichten in uns ist ein autobiografischer Schreibratgeber, aus dem man viel lernen kann. Einerseits natürlich ganz konkret übers Schreiben, darum geht es hauptsächlich, andererseits aber auch über das Weitermachen in schwierigen Zeiten.

 

Benedict Wells’ Autorenkarriere ist eine unwahrscheinliche und gleichzeitig sehr romantische Geschichte. Jahrelang schrieb Wells allein in seinen vier Wänden, jobbte nebenbei in Bars und kassierte von Verlagen eine Absage nach der anderen. Er ging nach Berlin, wie es viele Autor:innen tun, aber Glück brachte ihm das nicht. Eine Lektorin mailte ihm sogar, er solle doch „lieber was anderes machen“. Trotzdem hielt er durch, setzte sich immer wieder an seine Manuskripte und ließ sich von der teils vernichtenden Kritik nicht entmutigen. Damit ist vielleicht schon der wichtigste Tipp für das erfolgreiche Schreiben vorweggenommen: durchhalten. Oder wie es im Buch heißt: show up to work!

Diese glühende Leidenschaft für das Schreiben merkt man Wells  an, wenn er in Die Geschichten in uns von seinem Weg erzählt. In einem kürzeren autobiografischen Teil erfahren Leserinnen und Leser einige entscheidende Eckpunkte in seinem Werdegang: Seine Eltern schickten ihn auf ein Internat, die Mutter litt unter einer bipolaren Störung, sein Vater war auf eine liebenswerte Art chaotisch. Wells musste früh Verantwortung übernehmen und Ängste ausstehen, die die meisten Kinder und Jugendlichen glücklicherweise nicht durchleben. Obwohl Wells’ familiäre Herkunft trotz seines Künstlernamens mittlerweile hinlänglich bekannt ist – sein Großvater war Baldur von Schirach, Reichsjugendführer der NSDAP, der bekannte Anwalt und Autor Ferdinand von Schirach ist sein Cousin, die Autorin und Philosophin Ariadne von Schirach seine Schwester –, spielt sie in Die Geschichten in uns keine größere Rolle. Sie war, so sagt Wells, für sein Schreiben nicht so entscheidend.

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Der weitaus größte Teil des Buches beschäftigt sich mit dem Schreibhandwerk und Wells’ eigener Entwicklung. Was muss man mitbringen, um eine packende Geschichte zu schreiben? Welche Stolpersteine gibt es? Wann funktioniert ein Text und wann nicht? Wie erfinde ich eine authentische Figur? Gänzlich uneitel und praxisnah erklärt Wells anhand seiner eigenen Romane und ihrer verworfenen Fassungen, welche Fehler er zu Beginn gemacht hat.

Für seinen autobiografischen Schreibratgeber hat er viele andere Bücher über das Schreiben gelesen und flicht ab und an auch Tipps von Kolleginnen und Kollegen ein, deren Herangehensweise sich von seiner unterscheidet. Klar wird: Es gibt nicht die eine richtige Art, ein Buch zu schreiben. Und: Niemand schreibt ein gutes Buch in einem Rutsch. Überarbeitungen sind ein essenzieller Teil davon. Allen, die schon immer einmal schreiben wollten, wird von Wells das nötige Vertrauen und Handwerkszeug gegeben, um sich auf die eigene Reise zu machen.

Wir sind die Geschichten in uns; nicht nur die, die wir erlebt haben, sondern auch die, die wir anderen und uns selbst erzählen.

Aus: Die Geschichten in uns

Die Geschichten in uns macht große Lust aufs Schreiben, aufs Beobachten und auf die Entdeckung der Geschichten, die in jedem und jeder von uns stecken.

 

Sophie Weigand ist gelernte Buchhändlerin und Kulturwissenschaftlerin. Sie lebt in Lübeck, arbeitet als freie Redakteurin und bloggt auf literaturematters.de.


Der Autor

Benedict Wells, geboren 1984 in München, zog nach dem Abitur nach Berlin und entschied sich gegen ein Studium, um zu schreiben. Sein vierter Roman Vom Ende der Einsamkeit wurde u. a. mit dem European Union Prize for Literature 2016 ausgezeichnet und ist bislang in 38 Sprachen erschienen. Nach Jahren in Barcelona lebt Wells nun in Zürich.


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