Unbändige Erzählfreude


Übersetzerin Maria Hummitzsch im Büchergilde-Interview

Mit Die Liebe vereinzelter Männer hat der brasilianische Autor Victor Heringer einen ebenso zärtlichen wie brutalen Roman geschrieben, der mit Sprache und Genres spielt – eine schöne Herausforderung für die Übersetzerin Maria Hummitzsch, wie sie im Gespräch verrät.

176599_Heringer_Liebe_3D_01.png

Liebe Maria, du übersetzt seit vielen Jahren Literatur aus dem Englischen und vor allem aus dem Portugiesischen und hast selbst in Brasilien gelebt. Sag uns doch bitte: Wie spricht sich dieser so deutsch klingende Name Heringer in Brasilien aus?

Man sollte dabei weniger an den Fisch denken, stärker das Schmuckstück in der Mitte betonen, leicht am „g“ hängen bleiben und dann die dritte Person Singular männlich ein wenig extra stellen.

 

Du bist ja nicht „nur“ die Übersetzerin dieses Romans, sondern auch ein großer Fan davon. Was fasziniert dich an dem Buch?

Mich fasziniert so vieles daran! Mich fasziniert Heringers Sprache. Sie ist zum Bersten gefüllt. Sie ist in Bewegung und schiebt sich an Erwartbarem vorbei. Sie ist verspielt, ohne Genervtsein zu provozieren. Sie ist bis zum Äußersten wach und drängend. Mich fasziniert die Form, diese Mischung verschiedener Subgenres, die Wechsel zwischen journalistisch-dokumentarisch, essayistisch, literarisch anspruchsvoll und kreativ, teils humoresk. Mich fasziniert das Collagenartige im Zusammenspiel mit Bildern und Zeichnungen. Die hervortretenden Gegensätze: Zärtliches trifft auf Brutalität, Verspieltheit auf Durchlässigkeit, Lyrik auf Politik. Das Buch schenkt Schönheit und verstört. Es steckt voller unbändiger Erzählfreude und Lust am Experiment.

176599_Heringer_Liebe_BA_03.jpg

Gleich zu Beginn des Romans fällt der Name des langjährigen autoritär herrschenden Präsidenten Brasiliens Getúlio Vargas, und es gibt neben Anspielungen auf politische Zusammenhänge auch solche auf Kultur und Kulinarik. Bei einem brasilianischen Lesenden öffnet sich damit gleich eine Erfahrungswelt, nicht so bei einem deutschen. Ändert das etwas daran, wie du die relevanten Stellen übersetzt?

Diesen Hallraum kann ich nicht übersetzen; er ist im Deutschen einfach nicht da. Allein auf der ersten Seite stoßen deutsche Leser:innen sowohl auf ihnen unbekannte Viertel der Stadt Rio de Janeiro, das Phänomen und den Kosmos der Tier-Lotterie als auch auf politische Referenzen. Die Literatur aber erklärt Realia nicht. Und auch ich tue es nicht im eigentlichen Text. Andernfalls würde ein völlig anderes Buch entstehen. Da mir der Verlust jedoch bewusst ist, mache ich den Leser:innen ein Angebot: ein Glossar. Wer beim Lesen über Fremdes stolpert und nach einer Erklärung sucht, wird dort fündig. Doch auch die Möglichkeiten eines Glossars sind beschränkt, eine Beschreibung ersetzt nie die Erfahrung. Dennoch: Womöglich verpasst man entscheidende Bezüge, erkennt Landschaften nicht wieder, aber die Menschen, die sich in ihnen bewegen oder verlieren, die erkennen wir. Das Universelle im Individuellen bleibt.

176599_Heringer_Liebe_BA_04.jpg

Welche Herausforderungen gab es bei dieser Übersetzung? Ich denke an den schönen Neologismus „harharlachte“, den du kreiert hast, aber auch an einiges mehr wie den Klang, die Perspektive und Sprache des jungen und des älter gewordenen Protagonisten, die sinnliche Beschreibung der Umgebung („die sonnengewaschenen Bürgersteige“).

Oh, da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Heringer hat sprachlich so unglaublich herrliche Sachen veranstaltet. Da lohnt sich schon ein Blick auf den Titel: O amor dos homens avulsos. Hier wird sofort etwas deutlich, das sich durch den gesamten Text zieht: ungewöhnliche Wortkombinationen, die der Sprache etwas Elektrisierendes verleihen. Das im Portugiesischen (wie auch in anderen romanischen Sprachen) standardmäßig nachgestellte Adjektiv (hier im Plural) „avulso“ irritiert: Normalerweise findet es sich in Kombination mit Waren, Mengen, Dingen, also für Unverpacktes, lose zu Kaufendes. Verwendet wird es auch für „einzelne Socken“, also etwas, das zuvor ein Paar war, von dem nun aber ein wichtiger Teil fehlt. Die Bedeutung des Wortes ist schillernd, vieldimensional. Es kann auch einzeln, isoliert, unverbunden, herausgerissen, zweifelhaft, nicht zum Anerkannten gehörend bedeuten. Klar ist also: Es brauchte auch im Deutschen eine Lösung, die ungewöhnlich ist, vielgestaltig, nicht eindeutig zuordenbar. Und zugleich kommt das Wort im gesamten Buch noch an vier anderen Stellen vor und musste somit gleichbleibend, wiederzuerkennen und passend sein. Der gesamte Text wimmelt von ähnlichen Beispielen. Und dann dieses Gefühl für Rhythmus. Man erliest sofort, dass Heringer auch Lyriker war. Er traut sich was. Erschafft Neologismen. Arbeitet überhaupt stark lautlich. Poetisch kraftvoll.

 

Der mit dem Oscar prämierte brasilianische Spielfilm Für immer hier läuft auch hierzulande in den Kinos. Er thematisiert die Zeit der Militärdiktatur in Brasilien (1964–1985). Der Film hat die brasilianische Gesellschaft aufgewühlt und hatte u. a. zur Folge, dass Sterbeurkunden von mehreren Hundert sogenannten  „Verschwundenen“ in dem Sinne korrigiert wurden, dass ihr Tod „gewaltsam“ und „vom brasilianischen Staat verursacht“ worden war. Wie sehr wirkt die Diktatur in Brasiliens Gesellschaft und auch in der Literatur nach?

Sehr! Schauen wir in die jüngere brasilianische Geschichte. Mit Jair Bolsonaro wurde 2018 ein unumwundener Befürworter der Diktatur und ihrer Verbrechen in das höchste Amt Brasiliens gewählt. Das Ende der Militärdiktatur, noch dazu der längsten in der Geschichte Lateinamerikas, liegt in diesem Jahr vierzig Jahre zurück. Viele der Täter und Opfer oder aber ihrer Angehörigen und ihrer direkten Nachfahren sind noch am Leben, die Erinnerungen an diese Zeit sind wach oder leicht zu erwecken. Was ebenfalls nachwirkt, ist das Amnestiegesetz von 1979, das im sogenannten Übergangsprozess gegen Ende der Militärdiktatur erlassen wurde, als die Militärs auf ihre bleibende Autonomie vom Staat drangen. Eben dieses Gesetz, das zur Begnadigung fast aller inhaftierten Verbrecher führte, prägte den gesamten späteren Aufarbeitungsprozess. Es legte einen Mantel des Schweigens über Entführungen, Folter, Mord und die Praxis des „Verschwindenlassens“. Die Liebe vereinzelter Männer steht in einer Reihe literarischer Bemühungen, von jüngeren wie älteren Autor:innen gleichermaßen, zu dieser vorerst letzten Phase lateinamerikanischer Militärdiktaturen zurückzukehren und das gesellschaftliche Trauma anhand von Einzelbeispielen aufzuzeigen.

176599_Heringer_Liebe_BA_05.jpg

Du bist aktiv im Verband deutscher Übersetzerinnen und Übersetzer (VdÜ), warst einige Jahre die 2. Vorsitzende. Was treibt euch Übersetzende gerade besonders um?

Uns treibt um, dass Politik und Gesellschaft einen Rechtsruck erfahren, dass die Förderlandschaften im Bereich Kunst und Kultur erodieren, das Biotop der  Literatur immer kleiner wird, insbesondere das der internationalen Literatur, es durch die rasante Entwicklung im Bereich KI an den Genrerändern enger und der finanzielle Druck durch inflationsbereinigt sinkende Honorare bei gleichzeitig beschleunigten Produktionsabläufen immer größer wird, ohne dass sich eine relevante Verbesserung der prekären Honorarsituation abzeichnet. Im Gegenteil. Zugleich sehen wir uns damit konfrontiert, dass Gewissheiten grundsätzlicher infrage gestellt werden: der Erwerb von Fremdsprachen zum Beispiel, die Bedeutung von Literatur oder den Orten, an denen sie zu Gehör gebracht wird. All das führt zu Verunsicherung, zu einem Gefühl der Fragilität der Branche, und so ist es nicht verwunderlich, dass auch eine ganze Reihe erfolgreicher Kolleg:innen in Teilen oder ganz aus dem Beruf aussteigen. Es wird zu einer zentralen Aufgabe werden, die Kunst des literarischen Übersetzens lebendig zu erhalten und zu vermitteln, aber vielleicht auch neu zu denken und zu kommunizieren.

 

Vielen Dank für das Gespräch, Maria Hummitzsch!

 

Die Fragen stellte Corinna Santa Cruz.

Banner_Heringer_Liebe_HP2_1080x1080.jpg

Der Autor

Victor Heringer (1988–2018), geboren in Rio de Janeiro, war ein rastloser Multimedia-Künstler, der mit allen Formen und Themen experimentierte. Sein erster Gedichtband Automatógrafo erschien 2011, gefolgt von seinem Debütroman Glória im Jahr 2012, der 2013 mit dem Prêmio Jabuti ausgezeichnet wurde, was ihn schlagartig bekannt machte. 2018 starb Victor Heringer, der lange mit Depressionen zu kämpfen hatte, nur drei Wochen vor seinem dreißigsten Geburtstag.


Die Übersetzerin

Maria Hummitzsch, geboren 1982, studierte in Leipzig, Lissabon und Florianópolis (Brasilien) Übersetzung, Psychologie und Afrikanistik. Hummitzsch übersetzt aus dem Englischen und Portugiesischen, unter anderem die Werke von José Henrique Bortoluci, Dorothy Parker und David Garnett.


Mehr zum Titel auf Instagram


Bereits erschienen


Abonnement Büchergilde Weltempfänger