Am Ende der Zivilisation
Es ist definitiv kein Zufall, dass sich ausgerechnet Martin Scorsese die Filmrechte für Der Untergang der Wager gesichert hat. Nicht nur lassen die Schilderungen dieses historischen Unglücks auch mehr als 250 Jahre später niemanden kalt – das Buch stammt auch aus der Feder von New Yorker-Redakteur David Grann, der zuvor Killers of the Flower Moon verfasst hat.
Im Jahr 1740 befinden sich England und Spanien im Krieg, das Ergebnis eines stetigen Konkurrenzkampfes zweier Kolonialmächte. Beide wollen ihr Einflussgebiet vergrößern, Zugang zu neuen Märkten erobern und vermeintlich schwächere Völker die Zivilisation lehren – mit ausgesprochen unzivilisierten Mitteln. Fünf Kriegsschiffe mit etwa 2.000 Männern sollen im Auftrag der Admiralität über den Atlantik und um Kap Hoorn segeln, darunter auch die „Wager“, ursprünglich ein schwerfälliges Handelsschiff von 37,5 Meter Länge.
Dann rollte die nächste turmhohe Welle heran, warf die steuerlose und leckgeschlagene Wager auf die Seite und trieb sie tiefer in das Minenfeld aus Felsen.
Schon zu Beginn steht die Reise unter keinem guten Stern, wie der renommierte und vielfach ausgezeichnete US-amerikanische Journalist Grann in Der Untergang der Wager erzählt. Die Navy muss zahlreiche Männer zwangsverpflichten, darunter auch Alte, Kranke und Kinder. Kaum an Bord, infizieren sich Dutzende mit Fleckfieber, einer Krankheit, die vor allem durch Läuse und anderes Ungeziefer übertragen wird. Einige sterben, bevor die Schiffe überhaupt den Hafen verlassen haben.
Das Leben auf See ist hart und entbehrungsreich. An Bord bricht Skorbut aus, eine Vitaminmangelerscheinung, deren Ursache man zum damaligen Zeitpunkt noch nicht kannte. In seinem anschaulichen, wie ein Abenteuerroman verfassten Buch zitiert Grann zahlreiche historische Dokumente wie überlieferte Logbücher und Tagebuchaufzeichnungen und lässt das Geschehen auf diese Weise lebendig werden. Nach Monaten des Kampfes gegen die Natur verliert die „Wager“ den Anschluss an das Geschwader und läuft auf Grund. Die demoralisierte Mannschaft landet auf einer kargen Insel vor Patagonien, die heute Wager Island genannt wird. Je länger die Männer auf der Insel festsitzen und hungern, desto mehr beginnen die hierarchischen Strukturen zu bröckeln.
Im Januar 1742, Jahre, nachdem die „Wager“ ihre Reise angetreten hat, strandet ein Segelboot mit einigen verwahrlosten Seeleuten an der brasilianischen Küste. Sechs Monate später werden in Chile drei Schiffbrüchige an Land gespült. Beide Gruppen erzählen verschiedene Geschichten darüber, was auf der „Wager“ und auf Wager Island geschehen ist – Unstimmigkeiten, die nicht nur mehrere Bücher hervorbringen, sondern auch einen Prozess vor dem Kriegsgericht zur Folge haben, u. a. gegen Kapitän David Cheap.
Dass überhaupt Menschen diese Katastrophe überlebt und unter widrigsten Bedingungen die Heimreise angetreten haben, grenzt an ein Wunder. So haben es auch die Zeitgenossen empfunden, darunter John Byron, Großvater des später berühmten Lord Byron, der die „Wager“-Katastrophe als junger Fähnrich überlebte. Der Untergang der Wager liest sich spannend wie ein Thriller, romantisiert aber nie Kolonisation oder den Rassismus gegenüber Indigenen, die den Schiffbrüchigen Hilfe leisten. Dieses Unglück ist so unglaublich und die Härten dieser Reise so unvorstellbar, dass man Granns Buch mit angehaltenem Atem liest. Es verrät viel darüber, wozu Menschen imstande sind – im Guten wie im Schlechten.
Sophie Weigand ist gelernte Buchhändlerin und Kulturwissenschaftlerin. Sie lebt in Lübeck, arbeitet als freie Redakteurin und bloggt auf literaturematters.de.
Der Autor
David Grann, geboren 1967 in New York City, ist preisgekrönter Journalist und Sachbuchautor. Er arbeitet als Redakteur bei The New Yorker und veröffentlicht Artikel u. a. in der Washington Post, Atlantic Monthly und dem Wall Street Journal. Die englische Originalausgabe The Wager schaffte es auf die „Summer Reading List“ von Barack Obama.
Der Übersetzer
Rudolf Mast, geboren 1958, war, bevor er Theaterwissenschaften und Philosophie in Berlin studierte, Segellehrer und Segelmacher. Heute arbeitet er als Theaterwissenschaftler, Lektor und Übersetzer.